Michel Barlow
Übersetzung Jean Gaspar
Einige Leser von „Evangile et Liberté“ nahmen Anstoss am neuen Untertitel der Zeitschrift (Denken, Kritik ausüben, Glauben in aller Freiheit); Kritik ausüben schien ihnen nicht vereinbar mit christlichem Glauben. In der Tat wird Kritik ausüben in der allgemeinen Auffassung als systematische Zerstörung aller Gewissheiten betrachtet. Aber die jenigen, denen das Evanglium eine befreiende Wahrheit ist (Johannes 8,10), können und müssen auch die entgegengesetze Hypothese aufstellen: ist Kritik (das heisst, etymologisch , eine Intelligenz die zwischen Wahrheit und Irrtum, zwischen intelligent und dumm unterscheidet, usw.) nicht evangliumstreuer als eine Folgsamkeit ohne Abstand? Ist das Evangelium nicht Aufforderung zur radikalsten Kritik auf dem Gebiet der Religion? Schliesslich wird das Wort Gottes als Kritik bezeichnet in dem bekannten Gedankenflug der Epistel an die Hebräer, 4,12: „denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer denn ein zweischneidiges Schwert…. und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens“!
In der Tat ist Rabbi Jesus, für seine Jünger von gestern und heute, der Verkünder des kritischen Wortes. Kühn – und nicht risikolos – nimmt er Abstand zum Gesetz Mose – wenigstens so wie es gewisse Religionsvertreter seiner Zeit auslegten, streng,kodifiziert, „vorgedaut“ ! Und wenn er feierlich verkündet, dass er nicht gekommen ist, um das Gestz aufzulösen, sondern zu erfüllen (Mt 5,17) ist das eine klare Aufforderung zu unterscheiden zwischen dem Wesentlichen und dem Nebensächlichen , sogar Folkoristischen. Anders gesagt, eine religiöse Kritik auszuüben ! Im Gegensatz wirft er den Pharisäern ihre Irrtümer vor, „dass ihr verzehntet die Minze und Raute und allen Kohl, und geht vorbei an dem Gericht und an der Liebe Gottes“ (Lukas 11,42)
Es geht also nicht nur, um das Betragen der Jünger bei Meinungsunterschieden in punkto Rechtsachen, wenn Jesus ihnen sagt: „Und warum urteilt ihr nicht, von euch selber,was recht ist?“ (Lukas 12,57) In dem er so spricht, gibt er ihnen nicht den Rat, die Anwaltskosten zu sparen. Er fordert sie auf, ihre Intelligenz zu benutzen um ihre Gedanken und Taten frei zu lenken .
Sicher wurde das Christentum oft benutzt als Garant für Zwang in der Politik oder in der Erziehung. Aber man darf ein Werk nicht mit seinen Fälschungen verwechseln ! Jeder Verzicht auf eigene Meinung, auf eigenen Willen ist nichts anderes als eine Gotteslästerung,eine Lästerung gegenüber dem Gott der „den Menschen schuf zu seinem Bilde“ (Genesis 1,26-27). Also ist jede Geringschätzung des Menschen, jedes kleinliche Bild das man sich von ihm macht, unterwürfig und gehirnlos, auch eine Geringschätzung Gottes. Dieser will, wünscht als Kinder keine Roboter, keine zitternden Sklaven (Römer 8,15), aber er will Geister die frei und kritisch sind, sogar „Freidenker“.
Wenn das Evangelium unseren Geist von jeder „religiösen“ Befangenheit befreit, so ist es aber auc h eine Aufforderung auf allen Gebieten der menschlichen Tätigkeit eine „Auswahl“ zu treffen.
In punkto moralischer Beurteilung, nennt sich die evangelische und befreiende Kritik unterscheiden: „ich meine christlich zu handeln, aber ist es wirklich im Namen des Evangeliums, dass ich diese Wahl treffe, oder unter dem schleichenden Einfluss der herrschenden Gesinnung, oder meiner Erziehung, „ Alles was mir offensichtlich scheint, müsste umfassend „kritisch“ gesehen werden.
Auf diesem Gebiet wundert es mich – mit einer „echten-falschen“Naivität – dass eine gewisse christliche Kirche (erraten Sie welche) moralische Anweisungen verordnet, als wären es mathematische Theoreme; ohne wenn und aber zu befolgen immer und überall, ohne Rücksicht auf die Umstände, von jeder und jedem, ohne mögliche Ausnahme. Schwangerschaftsunterbrechung, Selbstbefriedigung,Scheidung, Homosexualitât, usw., usw. sind zu verbieten, immer und überall. In der langen Liste der Todsünden müssten die Gläubigen entscheiden, im Prinzip nicht nach eigener Meinung (nach einer evangelischen, persönlichen Kritik der zu treffenden Entscheidung), sondern müssten sich begnügen, untertänigst das“Gesetz der Kirche“ zu befolgen. Wie (früher) die Kinder, die nicht zu verstehen brauchten, sondern nur folgsam sein sollten, wenn Vati-Mutti ihnen sagten, ob etwas schlecht … oder gut war. Wisenschaftlich würde man sagen, das wäre ethische Heteronomie: das heisst, wenn ein anderer (heteros) ihnen das Gesetz (nomos) ihres Handelns vorschreibt.
Im Gegensatz, wie scheint sie mir doch viel erwachsener, viel menschlicher und viel christlicher, diese Frau die mir heute anvertraute, sie hätte abtreiben lassen, weil eine übertragene Krankheit, die Entwicklung des Kindes schwer belasten könne. Abtreibung nach ihrem Gewissen und im Spiegel des Evangeliums? Welch gerissener Kasuist könnte sie überzeugen, sie hätte ohne weiteres und ohne Seleenzustände, dem Diktat ihrer Kirche Folge leisten müssen?
Kurz gesagt, es geht darum, selber dem Evangelium zu begegnen und nicht durch die dicken Filter der kirlichen Traditionen. Das Evangelium ist ein Aufruf, selber zu entscheiden was gerecht ist. Es ist ein Auruf, selbstständig zu sein, ganz einfach, selber zu sein. Aber wahrscheinlich muss man das „wie“ dieser evangelischen Kritik zur moralischen Entscheidung erläutern.
In meiner frommen Jugend, hörte ich oft wie eingepaukt wurde. Vor jeder wichtigen Entscheidung soll man sich fragen: „ wie würde Jesus an meiner Stelle handeln?“. Und die kleinen Katechismusschüler suchten eifrig im Evangelium nach ähnlichen Lagen wie den ihrigen um zu wissen was sie tun sollten. Das führte zu erstaunlichen intellektuellen Verrenkungen: in der Klasse sind die eingebildeten Musterschüler die Pharisäer; aber Jesus, in seinem Dialog „mit diesen Leuten“ … also müssen wir …“
Diese Art, vorgefertigte Lösungen sogar Rezepte in den Worten und dem Benehmen von Jesus zu suchen, schliesst das ausüben einer persönlichen Unterscheidung aus und ist das Gegenteil eines kritischen Evangeliums. Dieses, um die Meinungsfreiheit , die Schätzung von jedem zu bewahren, strengt sich an , um unerreichbare Richtungen (keine Verordnungen) anzugeben: wie ein Horizont in dessen Richtung man gehen muss, ohne zu behaupten ihn jemals erreicht zu haben. Das ist die Aussicht der paradoxen und skandalösen „Seligpreisungen“ (Mt 5,3 – 12: Lukas 6,20 – 26) oder des Gleichnisses (denn es ist ein Gleichnis) vom letzten Gericht (Mt 25,31 – 46).
Auch auf das Risiko hin zu schockieren ,muss behauptet werden, dass die Kritik ihren Platz hat, auf dem geistlichen, sogar auf dem mystischen Gebiet. Selbstverständlich unter der Voraussetzung, die Begegnung mit dem göttlichen nicht zu verwechseln mit religiösen Rührungen, seien sie spontan oder künstlich hervor gerufen. „Niemand hat Gott je gesehen“ (Johannes 1,18), noch gehört, noch berührt; er ist nicht lösbar im Adrenalin unserer Rührungen,seien sie auch frömmelnd ! Also führt die befreiende Kritik des Evangeliums dazu, in diesem erlebten zu suchen, was jenseits der Worte und „Empfindungen“ steht. Mit dem angenommenen Risiko, dass , wenn man solche Erfahrungen wie eine Zwiebel schält, am Ende auf … anscheinend Nichts stösst. Aber ein Nichts, das vielleicht dier reinste Ausdruck des göttlichen ist. Man kennt die bekannte Hymne an Gott des Gregor von Nazianz:
„O Du, jenseits von Allem, … kein Gedanke kann dich erfassen, kein Wort kann von dir reden. Nur die Stille kann dich loben“!
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